Befaßt man sich auf einer solchen perspektiven Basis mit den Erscheinungsformen photographischer Welterfassung, so zeigt sich, daß der springende Hirsch durchaus mit Verkehrszeichen in Beziehung steht; viele der in unseren Ausstellungen gezeigten Personen können gelesen werden wie ein Verkehrszeichen.
Emblemata vermiculata
Betrachten Sie unsere Bilder langsam und schütteln Sie dann mit den Köpfen.
Ikonographie, wie wir sie im Alltagsleben mit unserer Urlaubsphotographie betreiben, hängt eng zusammen mit anderen Ikonographien, wie sie in der Literatur, Kunst und auch der Musik zu finden sind (Heinzel). Manch ein Abgebildeter, meist Mann, der zu Füßen eines Denkmals thront, scheint sich mit dem dort Gefeierten zu identifizieren wie ein triumphierender Perseus (Langlotz). Betrachtet man die völlig ungeordneten Sichtweisen auf fremde Städte, so erscheint die Welt als Labyrinth (Hocke). Die abgebildete, oft mittelalterliche Baukunst ist nicht nur in der Vergangenheit Bedeutungsträger, sondern gewinnt einen neuen Stellenwert, wenn sie auf endlosen Diaabenden die Macht des Gastgebers über seine Gäste demonstriert (Bandmann). Die Darstellung von familiärer Harmonie anlässlich der Bilder von Festtagen ist so verlogen wie die Gestalt des Heiligen (Lützeler); Frauen, die ihre Familien tyrannisieren erscheinen auf den Fotos wie eine Ikonographie der Madonna in Trono in der Malerei des Dugento, vor allem, weil diese Bilder in der Regel unscharf sind (Jacques). Männer, die sich profilieren, finden sich in direkter Nachbarschaft einer Ikonographie des Phaeton-Mythos, vor allem, wenn sie neben ihren Automobilen posieren (Jacoby, Moos). Der schimmernde Glanz mit dem die Alltagsfestlichkeiten abgelichtet werden, erinnert an den vergessenen Symbolismus architektonischer Formen in Las Vegas (Venturi). Die zahllosen Blumenbilder auf unseren Diaabenden bilden eine Ikonographie der Flora des südöstlichen Mitteleuropas mit Bescheidenheit nach (Jávorka). Das Verhältnis von Menschen auf diesen Bildern zeigt Züge eines Verhältnisses von Führer und Geführtem, Monarch und Untertan und bietet deshalb Anreiz zu einer politischen Ikonologie des Privaten (Weber). Vieles, was wir auf unseren Dia-Abenden sahen, verband die Betrachter zu Lachgemeinschaften (Röcke und Velten). Sie waren damit weit entfernt von der geistlosen Verernstung der heutigen Power-Point-Präsentationen, die häufig so peinlich sind, dass sie die Lösung ihrer Verkrampfungen in der neuen Unterhaltungsform des Powerpoint-Karaoke fanden. Manche der Amateurbilder, die der deutsche Diaabend gebiert, sind so gruselig, dass man sich in die Apokalypse, die Visionen des Johannes in den Darstellungen der europäischen Kunst versetzt fühlt (Meer); thronende Matronen dräuen einher wie eine missratene figurative Darstellung der Caritas (Möske). Viele der Bilder ermuntern, Lebenszyklen interpretatorisch zu betrachten, in den Gesichtern und Figuren zu lesen zu trachten (Sears); manche Bilder gar evozieren Klänge (Maur); andere wirken, als wären sie direkt einer Kampagne proletarisch-pädagogischer Kulturarbeit entnommen (Geller); so sehr sind sie angefüllt mit Askese und Endlichkeitsdemut (Wiebel). Manch deutsches Wohnzimmer ist voll mit Göttinnen, Göttern und Gottessymbolen (Keel) und erfüllt von einer Transzendenz der Gefühle. Betrachtet man die Scheußlichkeiten deutscher Eigenheimkultur, wie sie sich in den Fotos manifestieren, so lässt sich eine Materialikonographie des Betons, des Klinkers und des Plastes erstellen (Fuhrmeister); die Scheußlichkeiten unserer Städte erinnern an die Bildprogramme von Mythos und Polis (Knell).
Bandmann, Günter: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin 1951
Fuhrmeister, Christian: Beton, Klinker, Granit. Material, Macht, Politik – eine Materialikonographie. Berlin 2001
Geller, Rolf-Hermann: Zur proletarisch-pädagogischen Kulturarbeit. o. O. 1982
Heinzel, Erwin: Lexikon der Kulturgeschichte in Literatur, Kunst und Musik. Wien 1962
Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 1957
Jacoby, Brigitte: Studien zur Ikonographie des Phaetonmythos. Bonn 1971
Jacques, Renate. o. O. 1937
Jávorka, Sándor: Ikonographie der Flora des südöstlichen Mitteleuropa. Stuttgart 1979
Keel, Othmar: Göttingen, Götter und Gottessymbole. Freiburg 1992
Knell, Heiner: Mythos und Polis. Darmstadt 1998
Langlotz, Ernst: Der triumphierende Perseus. Köln 1960
Lützeler, Heinrich: Die Gestalt des Heiligen. Freuburg 1943
Maur, Karin von: Vom Klang der Bilder. München 1985
Meer, Frits van der: Apokalypse. Freiburg 1978
Moos, Stanislaus von: Turm und Bollwerk. Zürich 1974
Möske, Birgit: Caritas. Bonn 1977
Röcke, Werner; Hans Rudolf Velten (ed.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005 (Trends in medieval philology ; 4)
Schüssler, Gosbert: Studien zur Ikonographie des Antichrist. o. O. 1975
Sears, Elizabeth: The ages of man. Princeton 1986
Venturi, Robert: Learning from Las Vegas. Cambridge, Mass. 1977
Weber, Karsten: Führer und Geführte. Frankfurt a.M. 1978
Wiebel, Christiane: Askese und Endlichkeitsdemut in der italienischen Renaissance. Weinheim 1988